Was macht Corona mit obdachlosen Menschen ?

Ein Interview mit Anja Huhn, Mitarbeiterin der Berliner Stadtmission. Anja Huhn ist verantwortlich für die Kurzzeitpflege von obdachlosen Menschen und hilft auch in der medizinischen Ambulanz aus. Das Gespräch führte unsere Mitarbeiterin Thu Lan Ngyuen im Mai dieses Jahres in Berlin.

Blauer Bär vor dem Eingang der Berliner Stadtmission. ©Mehrblick

Thu Lan Ngyuen:

Worin unterscheidet sich eure Arbeit vor und während Corona? Haben sich die Bedürfnisse seitdem bei den bedürftigen Menschen geändert?

Anja Huhn:

Unsere Arbeit hat sich im Großen und Ganzen schon verändert. Die Bedürfnisse der Obdachlosen und Bedürftigen haben sich nicht geändert, wir haben weder mehr Wunden, noch mehr Grippe. Es wurde mehr Aufklärungsarbeit geleistet, denn es gab viele Unsicherheiten und das ist vielleicht eine Interpretation von mir, dass die Menschen zu uns kamen und uns gefragt haben: Wieso ist alles zu, was passiert hier gerade, was ist denn Corona?. Ich habe gemerkt, dass Aufklärung notwendig ist und unsere Arbeit hat sich mehr in die Richtung “Sozialgespräche” verändert. Vorher war es nur die reine Aktbehandlung.

Ansonsten haben sich ganz viele Abläufe geändert. Für die Menschen kann es frustrierend sein draußen warten müssen, da sich nur noch eine Person in dem Behandlungszimmer aufhalten darf.  Die Menschen bekommen nicht mehr das Gefühl, dass sie schon im Warteraum sind und sich dadurch sicherer fühlen.

Für uns Mitarbeitende ist es aber sehr viel angenehmer, dass sich die Leute nicht mehr im Wartezimmer versammeln, die Kaffee trinken oder quatschen wollen. Das ist natürlich auch sehr schön, aber das Wartezimmer ist irgendwann zu einem Begegnungsraum geworden, wo wir nicht mehr so richtig wussten oder herausfinden konnten, ob die Menschen wegen akuter Belange da sind, oder weil es einfach schön ist in dem Zimmer zu sitzen. Man hat schon gemerkt, dass sich die Gesprächsführung zwischen Ärzt*innen und Patient*innen verändert hat. Es ist ernsthafter geworden.

Durch Corona bleibt die Tür immer zu, es darf nur noch eine Person in das Gebäude rein und das Gefühl kennen sie sowieso schon von vielen Einrichtungen und das ist frustrierend.

Anja Huhn, Mitarbeiterin der Berliner Stadtmission. ©Mehrblick

Thu Lan Ngyuen:

Welches Feedback bekommt ihr zu den Brillensprechstunden? Gab es irgendwelche expliziten Momente, in denen die Obdachlosen zu euch gekommen sind und sich über die neu gewonnene Lebensqualität gefreut haben?

Anja Huhn:

Es wird sehr regelmäßig gefragt! Es gibt immer wieder Momente, in denen Menschen auf einmal mit Brille rumlaufen und erzählen, dass sie die von der Brillensprechstunde haben! Die Leute fühlen sich ganz klar sehr ernstgenommen, da euer Angebot mit dem Sehtest eine apparative Diagnostik ist. Ich habe den Eindruck, dass es sehr positiv angenommen wird. Ihr nehmt euch für jede*n Einzelne*n Zeit und das kommt sehr gut an. Es gibt auch Personen, die explizit nach MEHRBLICK fragen, wann denn die nächste Sprechstunde sei. Das tolle ist, dass ihr unglaublich unkompliziert seid. Die Leute kommen rein, kriegen einen Sehtest, eine passende Brille und gehen dann wieder raus. Sie müssen nicht viel dazutun und bekommen ein zufriedenstellendes Ergebnis.

Sind Augenkrankheiten und Sehschwäche generell Themen bei den Obdachlosen?

Wir haben ein Pflegezimmer, in denen wir Leute unterbringen. Das Zimmer ist für Menschen da, die zu krank für die Straße sind und zu gesund für das Krankenhaus. Vor allem ältere Menschen sind multimorbide, unter ihnen Menschen mit ausgeprägtem grauen Star und Glaukom. Es ist eine absolut frustrierende Sache für die Menschen, aber auch für uns. Augenkrankheiten sind für viele schwierig zu händeln. Ohne Krankenversicherung kommt man nicht an Brillen oder an einen Sehtest. Wir sind nur für akute Behandlungen da, so geht es ganz vielen medizinischen Einrichtungen und können so chronischen Krankheiten nicht behandeln.

Thu Lan Ngyuen:

Vielen Dank für das Gespräch und Deine Zeit!