Mit ruhigem Blick, einer zerschlissenen Jacke und gefalteten Händen sitzt Jörg Kessler (Name von der Redaktion geändert) vor der Tür der Straßenambulanz der Caritas in Hannover. Drei Mal habe er schon versucht, sich bei der Brillen-Sprechstunde von MEHRBLICK vorzustellen, aber nie habe es terminlich geklappt, berichtet er Projektleiterin Christiane Faude-Großmann an diesem Vormittag Ende Februar. Aber heute sei er mit seiner Tour schon früher fertig geworden. Welche Tour Jörg Kessler meint und wie er den Weg zu MEHRBLICK gefunden hat, schildert er eindrucksvoll.
MEHRBLICK: Wie haben Sie denn von der heutigen Sprechstunde erfahren?
Jörg Kessler: In unserem Ambulanzbus, den ich seit drei Jahren ehrenamtlich fahre, hängen immer Plakate von MEHRBLICK aus.
MEHRBLICK: Das ist ja ein starkes Engagement von Ihnen. Wie sind Sie dazu gekommen, sich ehrenamtlich als Fahrer zu engagieren?
Jörg Kessler: Vor vier Jahren wurde ich selbst mit meiner damals 16-jährigen Tochter über Nacht wohnungslos. In dieser Zeit habe ich durch die Sozialarbeiter der Caritas große Unterstützung erfahren. Durch die Caritas haben wir schließlich einen Platz in einem Wohncontainer erhalten.
MEHRBLICK: Wohnungslos mit einer pubertierenden Tochter auf 10 m² stelle ich mir als eine Herausforderung vor.
Jörg Kessler: Wir haben das nicht so gesehen. Alles war besser, als auf der Straße zu leben. Dazu muss ich aber noch unsere Vorgeschichte erzählen: Meine Frau hatte mich damals aus unserer Wohnung geworfen und mich bei der Polizei angezeigt. Als mein Arbeitgeber davon erfuhr, wurde mir sofort gekündigt. Ok, ich war zum Schluss auch nicht mehr so verlässlich zum Dienstbeginn gekommen… Meine Tochter wollte aber bei mir bleiben und ich wollte ihr ein guter Vater sein. Nach einem Gerichtsverfahren musste meine Frau ihre Anzeige zurückziehen, da ich unschuldig war. Der Job als Sicherheitsbeamter bei einer Behörde war trotzdem weg. Meine Tochter hat die ganz Zeit zu mir gehalten und ich habe ihr versprochen, dass ich unser Leben wieder „hinbekomme“.
MEHRBLICK: Wie hat Ihre Tochter die Zeit im Wohncontainer erlebt?
Jörg Kessler: Es war beengt, aber wir beide wussten, dass es nur vorübergehend war. Sie hat sich in dieser Zeit auch auf eine Lehrstelle beworben und einen Ausbildungsvertrag bekommen. Darauf war ich sehr stolz! Auch mein Ehrenamt als Fahrer bei der Straßenambulanz hat mir geholfen, die Tagesstruktur zu halten.
MEHRBLICK: Wie ist es dann weitergegangen mit Ihrer Wohnsituation?
Jörg Kessler: Meine Tochter ist später zu ihrem Freund gezogen und ich musste aus dem Container wieder ausziehen, da die Zeit von Anfang an begrenzt war. Naja, da es nicht gleich mit einem Zimmer im Wohnheim geklappt hat, blieb ich erst einmal auf der Straße. Aber mit meinen Kindern (Jörg Kessler hat noch einen erwachsenen Sohn; Anmerkung der Redaktion) habe ich immer regelmäßigen Kontakt. Wir unterstützen uns gegenseitig und sind füreinander da, auch wenn es schwierig wird. Über die Caritas bin ich auch in meine jetzige Wohnung gekommen. So langsam habe ich meine Unterlagen geordnet und werde mich im Sommer wieder auf eine Arbeitsstelle bewerben. Mit 61 Jahren, da kann man doch noch gut arbeiten und ich habe meinen Beruf immer gerne gemacht.
MEHRBLICK: So ein Leben braucht viel Kraft und Durchhaltevermögen, das haben Sie sich und ihren Kindern bewiesen. Wir wünschen Ihnen viel Glück bei den bevorstehenden Bewerbungen. Dazu brauchen Sie bestimmt auch eine neue Brille von uns, oder?
Jörg Kessler: Raten Sie mal, warum ich hier sitze (lacht)!
Anmerkung der Redaktion: Jörg Kesseler hat inzwischen eine neue Brille erhalten und einen neuen Arbeitgeber gefunden.Voller Stolz erzählt er Christiane Faude-Großmann von der DEKRA-Toys-Company in Hannover. Dort wird er zukünftig für das Lager und den Verkauf von aufgearbeitetem Spielzeug verantwortlich sein.